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Lässt sich mit ETFs die Schweizer AHV wirklich retten?

Dieser Beitrag ist eine Replik auf einen Artikel meines geschätzten Schweizer Kollegen Finanzfabio.

 

Sein Beitrag "Mit ETFs die AHV retten" ist ein schönes Beispiel für eine Reihe von ähnlichen Vorschlägen, die Altersversorgung respektive Vermögensbildung auf eine neue Basis zu stellen, indem man maximal langfristig via ETF in den Aktienmarkt investiert.

 

Finanzfabio schlägt dazu vor, für jeden Neugeborenen in der Schweiz 15 000 Franken in einen global diversifizierten, thesaurierenden ETF anzulegen. Die Finanzierung teilen sich der Staat und die Arbeitgeber der Eltern des Kindes. Konservativ gerechnet, erwartet das frische Menschlein bei der späteren Pensionierung mit 65 ein Vermögen von rund 1.2 Millionen Franken, wenn man historische Daten zur Berechnung heranzieht. Diese Summe ersetzt die Alters- und Hinterbliebenenversorgung AHV, die bisher übliche Grundsicherung für das Alter, derzeit finanziert im Umlageverfahren.

 

In meiner Replik betrachte ich den Vorschlag aus der fiktiven Sicht eines zukünftigen Bloggers, der 70 Jahre in der Zukunft auf die Umsetzung des Vorschlags zurückblickt.

 

Wir schreiben das Jahr 2091...

 

Matteo R. war das allererste Baby, das vor 70 Jahren unter die neue AHV Regelung mit 15 000 Franken ETF-Anlage bei Geburt fiel. Genauer Zeitpunkt war der 1. Januar 2021 um 00:01 Uhr im Burgdorfer Regionalspital. Matteos werdende Mutter kam schon am frühen Morgen des 30. Dezember in die Geburtsabteilung, mit nächtens geplatzter Fruchtblase. Sie wollte aber selbst nach 24 Stunden nichts von einem Einleiten der Geburt wissen, wozu die Ärzte vehement rieten. In den letzten Stunden vor der Geburt wurde es dann sogar kritisch, denn die Herztöne des Babys wurden schwächer. Beide Eltern wollten aber weiterhin keinerlei Massnahmen der Ärzte akzeptieren. Kurz nach Mitternacht konnte dann zum Glück aller ein gesunder Sohn geboren werden.

 

Im Rückblick war die Geburtenrate in den Schweizer Spitälern in den Wochen vor dem Jahreswechsel so niedrig wie seit Kriegszeiten nie, in den ersten Wochen nach Neujahr so hoch wie noch nie seit Babyboomerjahren. Manche Quellen berichten, dass damals wehenunterdrückende Stoffe auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Aus heutiger Sicht ist dies nicht mehr zweifelsfrei belegbar. Auch in den ersten Jahren nach Einführung der neuen Regelung blieb die Geburtenrate leicht erhöht, bevor es sich nach ca. 4-5 Jahren wieder auf dem langjährigen Mittel einpendelte.

 

Von Nationalrat und Ständerat wurde das ETF-AHV-Gesetz im frühen Herbst 2020 abschliessend beraten und mit Wirkung zum 1. Januar 2021 eingesetzt. Die kurze Frist war mit Bedacht gewählt, um die Auswirkungen der Änderungen möglichst zu begrenzen. Dennoch zügelten viele im Ausland befindliche schwangere Schweizerinnen in der Folge zurück in die Schweiz, um den Anspruch nicht zu verwirken, denn die genauen Regelungen zum Bezug waren anfangs noch nicht völlig klar.

Auch aus den ärmeren Ländern der EU bahnte sich bereits eine Völkerwanderung an, da die Boulevard-Presse im Ausland schlagzeilenträchtig vom "Millionär von Geburt an" berichtete. Durch vorübergehende Einschränkung der Personenfreizügigkeit mit Einverständnis der EU-Staaten konnte dies gerade noch verhindert werden. Im Gegenzug wurden die Kohäsionszahlungen an die EU deutlich erhöht.

 

Von Arbeitgebern, insbesondere bei Gastronomie, Gesundheitswesen und anderen personalintensiven Branchen kam gehöriger Gegenwind während den Vorbereitungen zur Einführung. Sie fühlten sich von der ETF-AHV Diskussion überrollt und verdauten ja noch die Belastungen der Coronakrise. Im letzten Moment wurden daher die Arbeitgeber entlastet, der Staat übernahm fürderhin ¾ der Kosten der ETF und eine geplante ablehnende Volksinitiative wie auch eine Klage vor dem Bundesgericht wurden im letzten Moment zurückgezogen.

 

Im Laufe der Zeit beruhigte sich die Situation in der Schweiz und im Ausland, denn der Bevölkerung wurde bewusst, dass der vermeintliche Reichtum mit einer enormen Wartefrist verbunden war. Wanderungsbewegungen waren dann nur noch untergeordnet auf die ETF-AHV-Regelung zurückzuführen.

 

Kommen wir zurück zu Matteo. Sein Vater, Arbeiter im Bauhandwerk, war schon drei Monate vor der Geburt entlassen worden. Gerade Kleinunternehmen wollten sich die Geburtsbeiträge nicht leisten und suchten anfangs jede Möglichkeit, von beabsichtigten Fortpflanzungswünschen Ihrer Mitarbeiter Wind zu bekommen. In den Folgejahren wurden sogar spezialisierte Unternehmen gegründet, die auf der Basis von Algorithmen und künstlicher Intelligenz die Wahrscheinlichkeit berechneten, ob und wann Mitarbeiter vermutlich Kinderwunsch entwickeln würden. Meistens wurden dazu nur zugängliche Social-Media und andere Datenquellen ausgewertet, manche Firmen schreckten aber auch vor Eingriffen in privatere Bereiche nicht zurück.

 

Matteos Mutter war Hausfrau. Im Endeffekt musste der Staat somit bei Familie R. die volle ETF-Summe übernehmen. Dies war beispielhaft für viele Eltern und das Finanzministerium sah sich noch im Startjahr 2021 gezwungen, das Budget für die ETF-AHV um 150 Millionen pro Jahr nach oben zu korrigieren, um die Ansprüche voll bedienen zu können.

 

Vater R. bekam noch im Frühjahr 2021 einen neuen Job. Matteo war sein fünftes Kind und alle Algorithmen und KIs rechneten bei ihm mit keinem weiteren Kind, was sich dann auch bewahrheitete. Sein Lohn war aber geringer als vorher, der neue Arbeitgeber hatte nun die zusätzlichen Ausgaben für die ETF-AHV seiner Mitarbeiter einkalkuliert. Die Beiträge für die normale AHV liefen ja auf beiden Seiten - Arbeitgeber und Arbeitnehmer - kontinuierlich weiter. Ebenso weiter liefen die Bundeszuschüsse zur normalen AHV.

 

Der Staat sah sich somit mit einer Reihe von höher als erwartet ausfallenden Ausgaben konfrontiert. Schon die Coronakrise hatte die Staatsausgaben anschwellen lassen. Auch die ETF-AHV trug zur Verschlechterung der Finanzen bei. Aus Studien in den Folgejahren wurden folgende Veränderungen berichtet.

  • Verschiebungen von geplanten Steuererleichterungen bei Unternehmen und natürlichen Personen
  • Verschlechterung des Kreditratings der Schweiz (bevor dieses nach ca. 25 Jahren eine noch nie erreichte exzellente Stufe erklomm, weil die Kreditgeber bemerkten, welche enorme Summe bereits im ETF-AHV angelegt war)
  • Verschlechterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für jüngere Arbeitnehmer und Verbesserungen beim Zugang für Ältere

Eine Erfolgsgeschichte war der ETF selbst. Verantwortlich für die Verwaltung und Zuteilung waren die AHV-Einrichtungen. Für die finanzielle Seite wurde die Credit Suisse ausgewählt, die in einem Bieterkampf die besten Konditionen bot. Der thesaurierende ETF war global diversifiziert. Zwei Faktoren wurden bei der Auswahl der Aktien im ETF berücksichtigt: das wirtschaftliche Gewicht der Staaten und die demographische Entwicklung der Regionen. Mit dem zweiten Faktor wurde dem Schwergewicht des US-Aktienmarktes etwas entgegengewirkt und aufstrebende junge Nationen konnten im ETF vermehrt auch Platz finden, was sich als weitsichtige Entscheidung entpuppte.

 

Der ETF wuchs im Laufe der Zeit zu einem gewaltigen Schwergewicht, denn er konnte auch ausserhalb der ETF-AHV erfolgreich vermarktet werden und so manche vermögende Eltern in anderen Ländern schlossen sich freiwillig dem Schweizer Modell an und kauften für Ihre Nachkommen bei der Geburt den sogenannten "Swiss Global ETF".

 

Die Erfolgsgeschichte endete leider, als 2044 eine Volksinitiative Zustimmung fand, die dem ETF einen ganzen Katalog von gutgemeinten Restriktionen auferlegte, notabene aus dem Bereich soziale Verantwortung, Umwelt & Naturschutz, Gender- und Rassengerechtigkeit, Klimaschutz und vielem anderen mehr. Zahlreiche Aktien von Unternehmen mussten den ETF verlassen und nach strengen Kriterien neue ausgewählt werden, was die Rentabilität in den Folgejahren deutlich verschlechterte und die Kosten erhöhte. Der ursprüngliche ETF entwickelte sich ausserhalb der AHV allerdings weiterhin bestens.

 

Bis zu diesem Ereignis 2044 erfüllte sich aber die Renditeerwartung der Gründer - ca. 7% jährlich. Leider spielte die Inflation nicht ganz mit. Nach einer Phase äusserst niedriger Inflation zu Beginn des Projekts beschleunigte sich die Inflation im Euroraum in den Jahren ab 2035 und blieb lange Zeit hoch. Grund dafür war die notwendig gewordene Entschuldung der hoch verschuldeten EU-Staaten. Gezwungenermassen musste die Schweizer Nationalbank dabei mitziehen, um nicht mit einem überstarken Franken die Konjunktur abzuwürgen. Für Matteo bedeutete dies, dass er mit 65 nicht die Kaufkraft von 1.2 Millionen Franken erhielt, sondern nur noch etwa 800 000 Franken - immer in Kaufkraft des Zeitpunkts seiner Geburt berechnet.

 

Es sei hier nochmals klargestellt, dass das ganze Vorhaben extrem lang angelegt war. Das Ziel, die AHV zu ersetzen ist selbst bisher, nach 70 Jahren, nicht vollständig erreicht. Denn es gibt ja weiterhin die Generation der kurz vor Matteo geborenen, die nun AHV beziehen. Die arbeitende Bevölkerung zahlt also selbst jetzt weiterhin im Umlageverfahren für AHV-Pensionisten. Economiesuisse schätzt die Folgen dieser Zusatzbelastung für die Wirtschaft mit einem Verlust an Wirtschaftswachstum von 0.15 % jährlich über die letzten 70 Jahre. Das klingt zuerst nach wenig, summiert sich aber über die Zeit gewaltig.

 

Für Matteo waren die angelegten ETF lange Zeit so gut wie nicht sichtbar. Dies änderte sich in seinem 58. Lebensjahr. Plötzlich poppten überall Anbieter auf, die den zukünftigen Millionären eine vorzeitige kreditfinanzierte Zahlung versprachen gegen Verpfändung ihrer zukünftigen ETF-Pension. Natürlich mit einem gehörigen Risikoabschlag, der den Verdienst der Anbieter darstellte. Viele verjubelten dann die bezogenen Gelder, hatten im Pensionsalter keine Rücklagen mehr und fielen der Sozialfürsorge anheim. Der Staat reagierte und verbot die vorzeitige Verpfändung oder anderweitige Verwertung der für die Pensionierung gedachten Gelder.

 

Darüberhinaus hatte der erwartete Reichtum im Alter entscheidenden Einfluss auf die Neigung, privat vorzusorgen. Die ETF-AHV-Generation investierte beispielsweise nur noch ¼ im Vergleich zur Generation davor in Säule 3a und andere für die Pensionierung vorgesehenen Anlagen.

 

Nicht vergessen werden darf, dass es in in der ersten Dekade zu schwerwiegenden politischen Auseinandersetzungen und zu allerlei gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Zuteilung der Anfangssumme kam. Soll z.B. ein in Manila geborenes Kind eines Schweizer Vaters Anspruch auf die ETF AHV haben? Wie sieht es aus bei einem in der Schweiz geborenen Kind, dass bald darauf die Schweiz verlässt und Zeit seines Lebens im Ausland arbeitet? Besteht in diesen und vielen, vielen weiteren Fällen Anspruch auf die Zahlungen? In harten politischen Auseinandersetzungen mussten darauf Antworten und Regeln gefunden werden.

 

Es wird noch einige weitere Dekaden benötigen, bis dieses gesellschaftliche Experiment ganz abgeschlossen ist und der letzte AHV-Pensionierte verstorben ist. Matteo kann sein Vermögen bereits jetzt geniessen und hat sich entschlossen mit einer 4%-Entnahmestrategie die Summe langsam aufzubrauchen. Ich wünsche ein langes Leben!

 

DIES IST EINE FIKTIVE GESCHICHTE und hat keinen Bezug zu realen Vorkommnissen!

 

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Kommentare: 1
  • #1

    FinanzFabio (Mittwoch, 05 August 2020 23:50)

    Werter Kollege

    Wir sollten das mal bei einem Bier in Aarau besprechen.

    Bid bald,

    FinanzFabio